„Der Mann, der unversehens abhanden kam“

AM 01.11.2013 war es wieder einmal so weit: eine Lesung stand als Abendveranstaltung auf dem Plan.

Also ging es auf ins „Haus des Buches“, um es sich im dortigen Literaturcafé gemütlich zu machen und die Geschehnisse zu beobachten.

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Kaum angekommen, wurde ich der guten Stimmung, der bereits vielzählig eingetroffenen Gäste und der regen Unterhaltungen gewahr, die den Raum füllten. Darunter fand sich, neben dem Autor selbst und seiner Frau, auch ein weiteres bekanntes Gesicht aus dem Grassi-Museum für Völkerkunde wieder: Frau Dr. Birgit Scheps-Bretschneider (ihres Zeichens Kustodin für Australien /Ozeanien sowie komm. Direktorin).

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Die Lesung selbst begann mit einer kleinen Verspätung, die der laufenden Gespräche und dem voller werdenden Raum geschuldet war. Die anwesenden Gäste waren gut versorgt mit diversen Getränken (u.a. Cola, Wein, Capuccino) und fühlten sich in der Atmosphäre des Literaturcafé sichtlich wohl.

Zu Beginn der Lesung wurden dann die anwesenden Hauptpersonen kurz vorgestellt, danach wurde auf den Verlauf des Abends eingegangen.

Zunächst feierte die Geschichte: „Der Mann, der unversehens abhanden kam“ seine Premiere, begleitet von eigens dazu komponierten Pianostücken des Jazzmusikers Stefan König. Dieser hat in Leipzig studiert und hat Arrangements unter anderem an der Oper Leipzig, dem Gewandhaus und dem Friedrichstadtpalast Berlin.

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Den zweiten Teil des Abends bestritt eine Passage aus „Im Zwielicht der Dämmerung“ – ebenfalls ein Werk von Dr. Günter Gentsch.

Aber zurück zum ersten Teil: „Der Mann der unversehens abhanden kam“.

Bereits der Titel weckt Neugier und lässt auf interessanten Hörstoff hoffen – genauso wie die komponierten Einzelstücke, die die Geschichte begleiten.

Die ersten Klaviertöne fallen wie zarter Regen, der sich im weiteren Verlauf zu einem Regenguss entwickelt. Die dramatischen Momente werden von kraftvoller Pianomusik getragen und dafür erntete der Künstler im Anschluss auch wohlverdienten Applaus.

Als Ulrich Jakobus erwachte…“ – diese einleitenden Worte erinnern ein wenig an Kafkas „Die Verwandlung“, dessen Geschichte mit ähnlichen Worten beginnt. Aber in Günter Gentschs Geschichte geht es nicht um Verwandlungen, sondern eher um schicksalhafte Vorfälle, die auf einen einzelnen, vielleicht unbedachten, Tastendruck zurückzuführen sind.

Zurück zur Geschichte. Sie beginnt mit einem Arztbesuch des pensionierten Gymnasiallehrers für Griechisch und Latein, unserer Hauptperson, Ulrich Jakobus. Der Grund für den Besuch bei Dr. Guido Hellmann ist vornehmlich ein hoher Blutdruck. Zweiter – und für den Ex-Lehrer fast noch wichtigerer Grund ist die Tatsache, dass seine Frau ihn wegen eines Jüngeren verlassen hat. Für Herrn Jakobus ist der Arzt ein stetiger Bezugspunkt, den er auch nicht mehr missen möchte.

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Ein wenig überrascht ist er demzufolge von den ersten Worten, die der Arzt an diesem Morgen an ihn richtet: „Wieso leben sie noch?“

(Für den Arzt sind die Worte nicht sonderbar, hat er doch am Vortag vom Ableben seines Patienten erfahren.)

Es stellt sich heraus, dass es sich um einen Verwaltungsfehler handelt und nun muss der pensionierte Lehrer handeln, denn es gilt, sich das Altersruhegehalt beim Geldtransferdienst der Seniorenverwaltung zu sichern.

Glücklich, am Leben zu sein, ereignet sich plötzlich ein Unfall: Mensch gegen Motorradfahrer geht nie gut aus….

In diesem Fall hatten beide Glück, dennoch bleibt Herrn Jakobus ein Schockgefühl erhalten.

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In gut strukturierten Sätzen, die viele Beschreibungen enthalten, erzählt Herr Gentsch diese Geschichte mit viel Witz und Humor.

Es werden die Tücken und Fehlbarkeiten der modernen Technik hervorgehoben.

Wie leicht man als „normaler Mensch“ doch den Fehlern der Computer bzw. deren Bedienern unterliegen kann!

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So wird Herrn Jakobus Angst und Bange, als er sich in Albträumen mit der Schicksalsgöttin Atropos konfrontiert sieht, die für ihn ein düsteres Omen darstellt. Schließlich ist er der Mythenwelt kundig und weiss, dass Atropos dafür verantwortlich ist, die Lebensfaden zu zerschneiden.

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Der Autor Günter Gentsch spielt wunderbar mit der deutschen Sprache und vermag, Geschichten zum Leben zu erwecken und im eigenen Kopfkino ablaufen zu lassen.

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Unser Hauptcharakter Jakobus wird nach den Ereignissen von Albträumen heimgesucht und Beruhigung findet er zunächst beim Anblick seines Spiegelbildes.

Als jedoch sein Ausweis nicht mehr auffindbar ist, droht Herr Jakobus, vollends durchzudrehen.

Der Mann der unversehens abhanden kam“ zeigt die Akribie des Verwaltungsapparates, der seine Handlungen selbst durch Vorschriften verzögert und so die Menschen – wie in diesem Fall Herrn Jakobus – in schwere Situationen stürzt, ohne dass sie etwas dazu getan haben.

Was ein kleiner Klick nicht alles für Folgen hat! – Natürlich will keiner der Verantwortlichen sein Fehlverhalten zugeben und Herr Jakobus sucht in diesen schweren Stunden Trost in philosophischen Werken. Die erwartete Hilfe findet er dort nicht, allerdings wird er in einer Angelegenheit doch noch fündig: sein Ausweis taucht auf.

Doch solange die Angelegenheit nicht aufgeklärt ist, findet sich der alte Mann in Albträumen wieder, in denen er unter anderem zum Dieb wird, da ihm das Geld fehlt, weil man ihm das Konto gesperrt hat.

All das, weil er fälschlicherweise als „tot“ eingestuft wurde.

An dieser Albtraumepisode ist die Antwort, die Jakobus gibt als man ihn verhaftet, hervorzuheben: „Sie verhaften einen, der nicht mehr lebt!“.

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 Nach der Lesung gab Herr Gentsch noch Auskunft zu seiner Geschichte, in der sich alles um den Zwiespalt zwischen realer und irrealer Welt dreht. Mythen, PC-Welt, Traum vs. Albtraum…

Er sprach über die Wahl des Lehrers als Hauptcharakter. Es ist sicher kein Zufall, dass Herr Jakobus Lehrer für Griechisch und Latein ist – das eine eine alte Sprache, das andere eine „tote“.

Seine Geschichte handelt unter anderem davon, wie menschliche Beziehungen ins Abseits geraten und man mehr auf die Technik achtet, als auf den Kontakt zu den Menschen um einen herum.

Der Kommentar eines Besuchers „Irreal war für mich der gute Ausgang.“ stachelte zu weiteren Erklärungen an.

Herr Gentsch klärte auf, dass die Geschichte mitnichten einen guten Ausgang habe, da Herr Jakobus schon so zerstört ist, dass er die positive Nachricht des Geldeingangs auf sein Konto schon nicht mehr richtig wahrnimmt, sondern in hysterisches Lachen ausbricht.

Durch die Geschehnisse sei schon „eine Schraube zu viel gedreht“ worden, so Herr Gentsch – der Mann hat schon zu viel erlebt, als dass er ruhig und mental gesund die positive Wendung hätte erleben können.

Der Mann der unversehens abhanden kam“ ist eine tragikomische Geschichte, die jedem von uns so oder ähnlich passieren könnte und wohl auch deshalb so gut angekommen ist.

Zudem passiert in dieser Geschichte viel in kurzer Zeit – die digitale Zeit wird durch den Handlungszeitraum reflektiert. Reflektion stand auch im Vordergrund der Wahl des Berufes der Hauptperson. (Herr Gentsch meinte, die Geschichte hätte einen anderen Verlauf genommen, wäre der Hauptcharakter beispielsweise ein Straßenbahnfahrer gewesen)

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Fragen und Antworten an Günter Gentsch:

In welcher Stimmung schreiben Sie eine solche Geschichte?

– In wechselnden Stimmungen, viel mit unterschiedlichem Musikhintergrund, „nicht so sehr Rotwein, nicht so sehr Ratio“, das merkt man wohl auch den unterschiedlichen Stimmungen im Text an

War die Namenswahl Jakobus vorher so festgelegt?

– Jakobus war eine unbewusste Namenswahl, deren er sich erst hinterher bewusst geworden ist (Jakobus = Apostel)

Verschwindet der Mythos, weil die Kenntnis über ihn verschwindet?

– Nicht wirklich, Mythos existiert noch, ist aber nicht mehr so präsent wie früher.

Es kommen neue Mythen aus anderen Gegenden hinzu und erweitern die archetypischen griechisch-römischen Mythen.

Dazu passend ein Zitat von Herrn Dr. Reiner Tetzner, der durch den Abend führte:

Wir leben im Mythos – wissen es nur noch nicht“

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Die Leipziger „Völkerschlachterei“ – eine Lesung…

Im Rahmen des 17. Leipziger Literaturherbsts war ich am 17.10. bei einer Lesung in der Leipziger Stadtbibliothek.

Der Hintergrund: 200 Jahre „Jubiläum“ Völkerschlacht zu Leipzig und das 100-jährige Bestehen des Völkerschlachtdenkmals.

 

Wie so oft in Inszenierungen von Schlachtbegebenheiten wird auch hier viel Brimborium betrieben und das Blutvergießen, dass zur damaligen Zeit herrschte, verharmlost. P1040421

Zur Lesung ein paar Worte:

Mit einer Gesamtauslastung von geschätzt 95% war der relativ große Raum im vierten Obergeschoss der Bibliothek sehr gut besetzt.

Der Raum füllt sich langsam...
Der Raum füllt sich langsam…

Mitveranstalter des Abends (der übrigens ohne Eintritt zu besuchen war) war der Arbeitskreis für vergleichende Mythologie, der seinen Sitz im „Haus des Buches“ hat.

Der Leipziger Autor wird kurz vorgestellt...
Der Leipziger Autor wird kurz vorgestellt…

Dr. Günter Gentsch stellte seine essayistische Streitschrift zur Völkerschlachterei vor und wurde im Anschluss mit viel Lob bedacht.

Er stellte Friedrich Wilhelm III. als Zögerer dar, der – bis zu seiner Verbündung mit Russland – unter enormem Handlungsdruck stand. Die Schrift wirft ein Blick auf die damalige Propaganda, die enorm zur Lenkung des Glaubens der Bevölkerung beitrug. Es wurden Dinge versprochen und vorgegaukelt, die im Nachhinein als nicht-erfüllbar entlarvt wurden.

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Der Leipziger Autor lenkt in seinem kurzen Werk einen umfassenden Blick auf alle Beteiligten der Ereignisse von 1813ff. und seine gewohnte Sprache ist den Ausführungen nur zuträglich.

Als Zuhörer vernahm man längere Sätze (mit Verschachtelungen), die an dieser Stelle gut zur Geltung kamen. Des Weiteren baute Herr Gentsch eine Vielzahl von Zitaten und anderen Literaturquellen ein, um seine Worte zu belegen. An dieser Stelle seien als Beispiel nur einmal diverse Augenzeugenberichte zu nennen.

 

Durch seine umfangreichen Schilderungen bringt er die schlimmen Tatsachen und Zustände zu Tage („Schlachterei“), die oftmals übersehen werden, wenn es um das Hervorheben der Ereignisse geht.

Günter Gentsch wirft auch einen zeitenumspannenden Blick bis in die heutige Zeit, in der das 200-jährige Gedenken an die Geschehnisse im Vordergrund steht.

Er beleuchtet den Wiener Kongress, in dem intrigiert, erpresst und gefeilscht wurde, um die jeweiligen Länderziele zu erreichen.

 

Ich als Zuhörerin komme an dieser Stelle nicht umhin zu sagen, dass ich mir eine solche Schrift bzw. solchen Enthusiasmus für ein Thema zu Zeiten meines Geschichtsunterrichts in der Schule gewünscht hätte!

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Dr. Gentsch hebt außerdem deutlich hervor, dass es seiner Ansicht nach beim Bau des Denkmals und der Feierlichkeiten zum Jahrestag mehr um das heldische Gedenken geht und weniger um das menschliche. Es werden die Mythen um den heldenhaften Sieg zelebriert und die schrecklichen Einzelschicksale, die zum Nachdenken anregen sollen, fallen meist „hintenrunter“ und werden vergessen. Seiner Ansicht nach bedarf dies einer Änderung, da es vor allem die Toten sind, denen man gedenken sollte.

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Aber wird nicht immer vieles verharmlost, um sich im Glanz des jeweiligen Ergebnisses zu sonnen?

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Neben dem gekonnten Einbau der Aussagen von Philosophen wie Nietzsche oder Cicero lenkt Herr Gentsch den Blick auch auf den Wandel in der Bedeutung des Denkmals zu verschiedenen Zeiten. Zu Zeiten der Herrschaft Hitlers wurde das Denkmal in seiner Botschaft zweckentfremdet und diente zeitweise sogar als „Weihestätte der deutsch-russischen Freundschaft“.

Heute finden in dem Gebäude Ausstellungen, Lesungen sowie Gebete und Gottesdienste statt.

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Bei all dem Rummel um die Schlacht und das Denkmal werden aber andere – ältere – und auch kulturell friedlichere Jubiläen nicht mit so viel TamTam erinnert. So wurde zum Beispiel das Jubiläum des Thomanerchores nicht so umfangreich zelebriert, obwohl dieser Knabenchor bereits seit 1212 existiert.

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 Laut dem Leipziger Autor besteht das heutige „Schlachtmarketing“ darin, am „Völki“ laut zu feiern und Volksfeste zu feiern, um vornehmlich auch das jüngere Publikum anzulocken.

Dass diese „Eventkultur“ unterschiedliche Meinungen hervorrufen kann, zeigte sich in der anschließenden Diskussion.

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Die überwiegend älteren Besucher fragten zunächst nach einer geplanten Veröffentlichung des Werkes und äußerten ihre Freude über das Vorhandensein einer solchen Streitschrift.

 

Im weiteren Gesprächsteil ging es um die Eventkultur. Wie werden heute historische Ereignisse für die jüngere Zielgruppe inszeniert, was wird gezeigt, was wird weggelassen?

Wie vermitteln historische Filme/Serien etc. die damaligen Zustände?

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Sicher ist, dass im TV keine triefend verletzten und zu Tode blutenden Schlachtopfer gezeigt werden können.

Hier stellt sich dann die Frage:

Wie lehrt man die nachwachsenden Generationen Ehrfurcht vor den historischen Geschehnissen und ihren Opfern zu haben? Ist dies eher Aufgabe der Eltern, sich um die emotionale Reife ihrer Kinder zu kümmern oder hat hier auch die Schule einen Auftrag, sich im Geschichtsunterricht oder anderen Schulfächern um die emotionale Erziehung und Bildung zu kümmern?

Ich bin der Auffassung, beide Institutionen – sowohl das Elternhaus als auch die Schule haben diese Aufgabe zu erfüllen. Nicht nur im Rahmen des schulischen Lehrplans sondern auch im Rahmen der außerschulischen Bildung.

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Als letzten großen Diskussionsteil im Rahmen der Lesung ging es um Napoleon, der nach Aussagen der Anwesenden „im zweiten Lebensteil die Bodenhaftung verloren hat.“

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Auch ging es um die Größe des Denkmals, die an Großmannssucht erinnert. Das Denkmal spricht nicht von den Toten der Schlacht sondern von den „Heldentaten“ und sendet somit auch eine ganz andere Botschaft aus als zum Beispiel das Denkmal der russischen Bevölkerung zur Völkerschlacht, welches ganz in der Nähe steht: eine Kirche.

Zu Ende des Vortrags tat sich – als Zusammenfassung sozusagen – folgende Frage auf:

 

Wie kann man eine Gedenkkultur entwickeln, die auf menschlichem Erinnern und Emotionen basiert?

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