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Als ich vor kurzem „Wunder wie diese“ gelesen hatte, dachte ich nicht, dass mir so schnell ein besseres Buch vor die Nase kommt – aber mit meinem letzten Buchkauf habe ich wohl sehr viel Glück gehabt 🙂
„Das Schloss in den Wolken“ ist ein kleines Lesejuwel, wie ich es schon lange nicht mehr hatte. Viele Bücher, die ich gelesen habe, hatten das gewisse „Etwas“, aber nicht so deutlich hervortretend, wie in diesem Roman von Lucy Maud Montgomery, der im englischsprachigen Original 1926 herausgegeben wurde.
Bereits der Schutzumschlag machte mich neugierig – und ich bin für meine Neugier belohnt worden 🙂

Wer den Schutzumschlag nicht mag, könnte diesen auch abnehmen und wird mit den Blumenranken über das komplette Format begrüßt – egal wie, dieses Buch hat mich gefesselt.
Und daran lag auch das Knifflige beim Lesen – liest man lieber lange und ausgiebig, um sich richtig tief in die Geschichte ziehen zu lassen? Oder liest man in mehreren Abschnitten, um mehr vom Erleben zu haben und länger bei den Charakteren verweilen zu können?
Diese Entscheidung fiel mir manchmal nicht gerade leicht, und so habe ich das Buch doch mehrere Male weggelegt, nur um wenige Minuten danach erneut danach zu greifen und weiterzulesen…
Doch nun zum Buch selbst…
*** *** ***
„Hätte es an jenem Morgen im Mai nicht geregnet, hätte Valancy Stirlings Leben einen völlig anderen Verlauf genommen. Sie wäre zu Tante Wellingtons Verlobungspicknick gegangen, und Dr. Trent hätte sich nach Montreal aufgemacht. Doch es regnete, und was ihr deshalb wiederfuhr, will ich nun erzählen.“
(S. 5)
Mit diesen Worten beginnt Lucy Maud Montgomery – oder die Übersetzerin ihres Werkes – die Geschichte von Valancy Stirling.
Und diese junge Dame hat es wirklich nicht leicht im Leben – zu den damaligen Zeiten schon nicht – und würde man die Handlung in die heutige Zeit versetzen – wäre sie auch nicht glücklicher.
Als Leser wird man in Valancys kalte Wirklichkeit hineingeschmissen – und muss sich erstmal in dieser zurechtfinden. Die verschiedenen Personen, die sie im wahrsten Sinne des Wortes „ertragen“ muss und die alle irgendwie zu ihrer Familie gehören. Noch dazu kommt ihr Zimmer, welches ihren Frust nur noch vergrößert…
„Sie hatte einen Sinn für Humor, von dem niemand in ihrer Familie etwas ahnte – was im Übrigen auch für andere ihrer Eigenschaften galt. Aber das Lachen verging ihr gleich wieder, und so lag sie im Bett, ein nichtiges Häufchen Elend, lauschte dem Prasseln des Regens und beobachtete mit verdrossenem Widerwillen, wie das kalte, gnadenlose Licht in ihre hässliche, schäbige Kammer kroch.
Sie kannte die Hässlichkeit dieses Zimmers in- und auswendig – kannte und hasste sie. Der gelb gestrichene Fußboden mit dem scheußlichen gehäkelten Bettvorleger, von dem ein grotesker gehäkelter Hund sie jeden Morgen beim Aufwachen angrinste; die von alten Wasserflecken und Rissen übersähte Zimmerdecke […]“
(S.7)
Die Beschreibungen ziehen sich noch eine Weile hin und dann kommen wir auch schon zu Valancys größtem Problem: sie ist zu angepasst, spricht nie Widerworte und würde trotzdem am liebsten aus ihrer Welt entfliehen:
„Manchmal dachte Valancy, dass sie selbst ihr Zimmer etwas hübscher machen könnte, auch ohne Geld, wenn man sie nur ließe. Doch ihre Mutter hatte jeden noch so schüchternen Vorschlag abgeschmettert und Valancy beharrte nicht darauf. Valancy beharrte nie auf irgendetwas. Sie traute sich nicht. Ihre Mutter ertrug keinen Widerspruch. Wenn sie gekränkt war, gebärdete sich Mrs. Stirling tagelang wie eine beleidigte Majestät.“
(S. 8/9)
Alles in allem ist Valancys Leben also ziemlich trostlos: sie ist 29, lebt unter der Fuchtel ihrer Mutter und ihrer sonstigen Verwandtschaft und muss deren versteckten Spott und Hohn ertragen. Schließlich ist man mit 29 meistens verheiratet und hat schon eine eigene Familie gegründet, oder?
Zumindest in den Augen der damaligen Gesellschaft… und somit ist Valancys derzeitiger Status ein absolutes Versagen ihrerseits!
*** *** ***
Aber Valancy schafft sich Erholung in ihrem blauen Schloss.
Von diesem träumt sie schon seit sie ein kleines Mädchen war und dies ist ihre einzige Möglichkeit, mit Hilfe ihrer Fantasie ihrem tristen Leben zu entfliehen:
„Das Einzige, was ihr die Eintönigkeit ihrer Tage ertragen half, war die Aussicht, sich nachts in ihr Schloss träumen zu können. Die meisten, wenn nicht alle Stirlings wären vor Entsetzen tot umgefallen, hätten sie auch nur im Entferntesten geahnt, was Valancy in ihrem Blauen Schloss alles tat.“
(S. 10)
Zu Beginn des Buches erfahren wir ziemlich viel von Valancys Familie – ausführliche Beschreibungen von jedem Mitglied, das in der Geschichte eine Rolle spielt. Unbeliebte Tanten und Onkel werden vorgestellt und mit ihren Fehlern beurteilt.
Als Leser nimmt man unweigerlich Valancys Haltung ein und kann ihre Abneigung gegen all diese Personen förmlich spüren.
*** *** ***
Eine weitere Sache, die Valancy in all ihren Jahren zu Hause entwickelt hat – bzw. angerzogen bekam – ist Angst. Sie hat Angst, irgendjemanden zu verletzen, Angst, Widerworte zu geben und Angst, nicht zu gefallen. Sie ist demzufolge auch extrem angepasst und unterwürfig und behält ihre Meinung lieber für sich, als sich der herablassenden Betrachtung ihrer „Familie“ ausgesetzt zu sehen.
Noch dazu hasst Valancy es, dass ihre Familie sie ihres Namens „beraubt“ haben und sie immerzu „Doss“ rufen – eine Art Spitznamen, den sie noch nie mochte.
Aber Widerworte hat Valancy ja noch nie gegeben und so lässt sie sich weiterhin Doss nennen und bleibt gefangen in ihren anerzogenen Fesseln…
…bis sie einen Absatz eines Buches liest – und zu einem selbst gewählten Arzt geht!
„Angst ist die Ursünde. […] Nahezu alle Übel auf der Welt gehen darauf zurück, dass jemand vor etwas Angst hat. Angst ist eine kalte, glitschige Schlange, die sich um dich ringelt. Es ist schrecklich, mit Angst zu leben; und vor allen Dingen ist es entwürdigend.“
(S. 47)
Der Besuch bei Dr. Trent verläuft ganz zufriedenstellend – bis der Arzt schnellstmöglich die Stadt verlassen muss – und Valancy einige Tage später einen Brief bekommt:
„Dr. Trent teilte ihr mit, dass sie eine sehr gefährliche und tödliche Herzkrankheit habe, Angina Pectoris, allem Anschein nach verschlimmert durch ein Aneurysma (was auch immer das war) und im letzten Stadium. Er sagte schonungslos, dass man nichts dagegen tun könne. Wenn sie gut auf sich achtgebe, habe sie vielleicht noch ein Jahr zu leben, aber der Tod könne sie jederzeit ereilen.“
(S. 61)
Diese schreckliche Nachricht ist der Beginn von Valancys „neuem“ Leben – frei und ohne die Zwänge anderer!
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Was wird Valancy, die schwarzhaarige junge Frau, in diesem Jahr alles erleben?
Wie reagiert ihre starre Familie auf ihr neues Verhalten?
Was ist mit Valancys blauem Schloss?
Und was hat es mit Barney Snaith auf sich?
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Beim Lesen macht es richtig Spaß, Valancy in ihr neues Leben zu begleiten und ihre Verwandlung zu beobachten – vom verschüchterten und verängstigen Mäuschen hin zu einer Frau, die im Leben steht, die dieses auch auskostet und nicht nur an Konventionen denkt – sondern an eben dieses Leben.
Sie hat verinnerlicht, dass man nur ein Leben hat und das Beste aus diesem machen sollte – denn es kann so schnell vorbei sein.
„Das Schloss in den Wolken“ ist ein Lesejuwel einer großartigen Schriftstellerin und sehr zu empfehlen.
Wer Lucy Maud Montgomery nicht schon längst durch ihre Bücher rund um „Anne auf Green Gables“ kennt, sollte sie mit diesem Buch kennenlernen bzw. die Bekanntschaft vertiefen!
Eine definitive Leseempfehlung für alle, die einmal komplett in einer Geschichte gefangen sein wollen und mit einem guten Gefühl eine Geschichte beenden möchten 🙂
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