~ „Glück im Unglück“/ „Morgenwind“ – Teil 3 ~

Und weiter geht es in der Geschichte:

Der Zustand könnte sehr kritisch werden. Der Zustand könnte ….’

Immer wieder jagten ihr diese Worte durch den Kopf. Wie in Trance schleppte sie sich zum Oberen Bahnhof. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren, wusste weder, wann der nächste Zug fährt, noch, ob überhaupt einer fährt.

Irgendwann fand sie sich im Zug wieder, mit geschlossenen Augen an die kühle Abteilwand gelehnt. Von weither hörte sie den Schaffner sagen, dass die letzte Bahn nach Krömlitz bereits vor einigen Stunden gefahren sei.

Geht es Ihnen gut, junge Frau?’, vernahm sie die besorgten Worte des Schaffners. Sie nickte kurz und schwieg.

Auf dem Nachhauseweg spürte eure Mutter ihre Beine nicht. Sie schienen einer fremden Macht zu gehorchen, denn sie eroberten Meter für Meter die Straße von Kräsla nach Krömlitz. Am späten Abend kam sie völlig erschöpft zu Hause an.

Wenn sie nicht trinkt, könnte ihr Zustand sehr kritisch werden’, sagte sie abwesend, als sie in unsere ernsten Gesichter blickte. ‚Ich darf morgen wieder kommen.’

Soll jemand mit dir gehen, Herta. Vielleicht kann Bruno dich noch einmal fahren.’

Danke Papa,’ wehrte sie ab. ‚Bruno wird wieder eingezogen, als Kraftfahrer. Sicher ist er schon weg.’

Am nächsten Morgen, sofort nach dem Frühstück, nahm sie ihre Tasche und ging zur Kleinbahn. Sie drehte sich kurz um und lächelte. Doch es gelang ihr nicht, mich zu täuschen.

Und gerade an diesem Tag fuhr die Kleinbahn gar nicht. Einige Fahrgäste gingen nach Hause, andere machten sich auf den Weg nach Kräsla, um den nächsten Zug nach Dölschau zu erreichen. Eure Mutter reihte sich ein und lief mit. Durch Gesprächsfetzen, die hin und wieder an ihr Ohr drangen, wurde sie etwas abgelenkt.

Der Tag hatte nicht glücklich begonnen.

Wie würde er enden?

Fast hätte sie eine Schwester umgerannt, so schnell lief sie zum Krankenzimmer. Ein leiser Schrei löste sich von ihren Lippen, als sie sah, dass das Bett ihrer Tochter nicht mehr an seinem Platz stand. Es kann ‚alles‘ bedeuten, aber auch ‚nichts‘, schoss es ihr durch den Kopf.

Wir mussten Ihr Baby in einen anderen Raum fahren, weil es die frisch operierten Kinder störte’, hörte sie hinter sich die Kinderärztin sagen.

Wo ist meine Tochter? Wie geht es ihr?’

Doch die eine Frage blieb ebenso unbeantwortet, wie die andere. Stattdessen führte die Ärztin eure Mutter an eine Tür, die sie langsam öffnete. Ein kleiner Raum mit schwarzen Vorhängen an den Fenstern wurde sichtbar. Hinten an der Wand stand das Bett.

Kalte, dunkle Stille beherrschte den Raum.

In dieses Zimmer fahren wir die Patienten, denen wir nicht mehr helfen können. Ihre Tochter hat seit vorgestern Abend nichts getrunken, immer nur geschrien. Vorhin ist sie vor Erschöpfung wieder eingeschlafen. Glauben Sie mir bitte, wir haben alles Menschenmögliche versucht.’

Eure Mutter umfasste die heißen Hände und begann leise zu singen, das Schlaflied, welches sie euch schon unzählige Male vorgesungen hat.

Heute Nachmittag kommt ein Professor aus Halle, der einen schwerverletzten Jungen operieren muss. Ich werde dafür sorgen, dass er sich ihre Tochter ansieht.’

Sie hörte die Worte nicht. Sie summte weiter.

Ach ja, sie brauchen doch meine Milch,’ murmelte sie plötzlich, erhob sich und ging mechanisch ins Nebenzimmer. Keine Träne, nur Leid und Schmerz standen in ihren Augen. Wann ein Zug fuhr, wusste sie nicht.

Irgendwann kommt bestimmt ein Zug’, tröstete sie sich. ‚Ich komme schon nach Hause. War die Kleinbahn heute ausgefallen? Oder war das gestern?’

Völlig überhitzt kam sie spät am Abend zu Hause an und versuchte, uns zu erklären, dass Elsa lebte und doch auch nicht.

Arme Mama’, flüstern Kati und Angela, wie aus einem Munde.

Ja, wir machten uns nun auch Sorgen um eure Mutter“, fuhr Großmutter fort.

 ‚Herta, du musst etwas essen’, redete Großvater am nächsten Morgen auf sie ein. Doch sie wehrte wieder ab und schwieg.

Plötzlich hörten wir im Hof eine Stimme. ‚Herta, Emma, Richard, hört ihr mich?’

Mit einem Satz war eure Mutter am Fenster und riss es auf.

‚Herta, da hat eine Frau angerufen. Du sollst sofort ins Krankenhaus kommen’, rief Lydia, unsere Nachbarin.